Perspektiven der Mediävistik am Karlsruher Institut für Technologie. Einige Anmerkungen

Kurzvortrag anlässlich des Fakultätstags der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), November 2010


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie zunächst die Bestandsaufnahme: Fast jede/jeder zweite Studierende an unserer Fakultät studiert Germanistik - das Fach scheint beliebt, und es scheint dies trotz der scharfen regionalen Konkurrenz gerade auch hier, am KIT. Forschungsspezifisch tritt die gewichtige Rolle der Germanistik für die Profilbildung im Kompetenzbereich 'Kulturelles Erbe und sozialer Wandel' und im KIT-Schwerpunkt 'Mensch und Technik' hinzu, und für den eben neu entstehenden wie für bereits bestehende transdisziplinäre Studiengänge ist die solide germanistische Flanke zweifellos von Vorteil bzw. schon bewährte Praxis.

Wozu aber braucht das KIT, braucht diese Fakultät, braucht das Fach auch eine Mediävistik? Die Frage ist zumindest im dritten Teil einerseits absurd, denn ohne Mediävistik ist 'das Fach' per definitionem nur Fachteil. Andererseits ist sie leider auch nicht eben unrealistisch. Es gibt Germanistiken, Romanistiken, Anglistiken, Slawistiken, die ohne Mediävistik, mitunter sogar ganz ohne das Jahrtausend vor 1750 auskommen. Um es gleich zu sagen: Nachahmenswert sind solche Vorbilder nicht. Doch warum, um die Frage ins Intrinsische zu wenden, sollten sich Studierende für europäische Literatur, Kultur und Mediengeschichte der Vormoderne interessieren, wo diese doch lange vorbei ist und heute allüberall das Moderne das Feld beherrscht?

Der heute oft negative Ruf des Mittelalterlichen in Publizistik und Alltagssprachgebrauch beruht häufig auf Rückprojektionen - Rückprojektion einerseits handfester späterer Krisen (wie des Hexenwahns oder entfesselter religiöser Kriege im Gefolge der europäischen Reformationen); Rückprojektion andererseits von Mängeln und Greueln der je eigenen Zeit, die in dieser Hinsicht dem Mittelalter selten nachstand; das so gesehen finsterste aller Jahrhunderte liegt eben erst hinter uns.

Dagegen wissen oder ahnen wir, dass gerade die globalisierte Gegenwart ohne eine wissenschaftlich verantwortete und verantwortbare Spurensichtung und -sicherung in der Vergangenheit nicht auskommen kann, will sie das Feld nicht den Mystagogen und Geschichtsklitterern überlassen, die sich ihre Vergangenheit immer schon zurechtbastelten, wie sie sie eben brauchten - wir denken an den fatalen Nibelungen- und Germanenkult der eigenen jüngeren Geschichte, rezenter an die blutige Erinnerungsspur, die sich seit 600 Jahren vom serbisch-kosovarischen Amselfeld quer durch die historischen Schluchten des Balkans zieht. All das ist gewiss Neuzeit, nicht Mittelalter - aber gerade deshalb hat die Mediävistik der Neuzeit so viel zu sagen, mitunter auch zu erklären.

Sie hat aber auch ein gewaltiges kulturelles Erbe zu verwalten und zu speichern, aus dem ich wahllos nur zwei für den gegebenen Anlass besonders geeignete Stichworte herausgreifen will: Mit Karl dem Großen hielt um 800 die Idee und das Konzept einer auf die (namentlich Spät-) Antike gegründeten Bildung Einzug in das durch die Völkerwanderung depravierte Europa; Schulen blühten auf, eine gereinigte Sprache und Schrift setzten sich durch, die deutsche Sprache und Literatur traten erstmals in Erscheinung. Die kulturellen Reformen überlebten Karls Herrschaft lange, zum Teil (was etwa die europäische Buchschrift angeht) bis heute.

Im 11. Jahrhundert dann begann in Bologna eine neue Traditionslinie, die Europas Gesicht bis heute prägt: die Geschichte der Universität. Wie stark sich die Institution in den folgenden 800 Jahren auch wandelte - ihre Vergangenheit blieb ihr stets eingeschrieben und blieb vital, und dies weit über den Namen der Institution und ihrer Gliederungen, ihre Abschlussgrade, Gremien und Titel hinaus. Auch bestimmte Lehr- und Lernpraktiken, die essentials wissenschaftlicher Ethik, ja die spezifische 'Mentalität' der Institution und der ihr Angehörenden erwiesen sich als erstaunliche longue durée. Die Grundpfeiler dessen, was um 1100 in Bologna und Paris seinen Ausgang nahm, hielten dem Wandel zur Masseninstitution und, wie ich trotz aller Unkenrufe doch meine, im Kern auch den rezenten Reformen stand: Freiheit der Wissenschaft und Lehre, weitgehende innere Autonomie (welche einst freilich bis zur eigenen Gerichtsbarkeit reichte), Zusammenkunft von Lehrenden und Lernenden zum Zwecke einer Bildung, die mehr als nur Ausbildung ist. Sonst aber war die Universität seit jeher eine institutio semper reformanda, eine sich stets aus sich selbst heraus wie durch Impulse von außen reformierende Größe. Man muss nicht verzagen, wenn sie das bis heute blieb und auch in Zukunft bleiben wird.

Karl der Große und seine Bildungsreformen, die europäische Universität - hinzufügen sollte man, bei etwas mehr Zeit, als weiteren Meilenstein europäischer Wissens- und Wissenschaftsgeschichte zwingend den um 1450 von Mainz aus rasch über ganz Europa ausstrahlenden Buchdruck: Ich muss es bei diesen Stichworten belassen, die pars pro toto stehen dürfen für das, was das Mittelalter zur Kultur, auch Technik- und Medienkultur, der Gegenwart beitrug - und was eine philologisch und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Mediävistik zum KIT-Profil beitragen kann und wird.

Die historische Tiefendimensionsionierung von Technik, Literatur und Gesellschaft sehe ich als die erste und genuine Aufgabe, zugleich als Mitgift der germanistischen Mediävistik und Frühneuzeitforschung an meine Fakultät und das KIT. Ein prägendes Jahrtausend einer noch - wie nun zunehmend wieder - transnationalen Zivilisation, ihrer politisch-sozialen und kulturellen Verfasstheiten und wissenschaftlichen Entwicklung gilt es zu sichten und in Forschung und Lehre für die Zukunft verfügbar zu halten. Das Kulturerbe gerade jener Epoche dient noch immer bemerkenswert häufig der Selbstverortung und Selbstvergewisserung der Gegenwart, wie schon der flüchtigste Blick auf den Buch- und den Ausstellungsmarkt belegen kann - ich verweise nur auf die eben laufende Mannheimer Großausstellung über die drei 'Innovationsregionen' des stauferzeitlichen Europa. Haltlose homines oeconomici aller Zeiten und Kulturen mögen das historisch Gewachsene nur als lästiges Hindernis auf ihren visionären Wegen in eine bessere, rational geordnete Menschheit abtun; eine Tatsache bleibt es doch. Viele aktuelle Konflikte um technisch-architektonische Großprojekte kranken bekanntlich am mangelnden Geschick oder Willen ihrer Planer, die historische Identität und ihre normativen Kräfte rechtzeitig ins Kalkül zu ziehen und 'mit ins Boot zu holen' - wenn schon nicht aus Überzeugung, so zumindest aus Pragmatismus. Man muss leider sagen: Höchst folgenreich regieren uns allerhand Sachbearbeiter einer sich selbst genügenden Moderne, denen der Blick für gewachsene Mentalitäten abhanden kam, weil sie selbst keine mehr haben.

Dass das KIT, wie im übrigen fast alle Technischen Universitäten hierzulande, sich zumindest eine mediävistische Disziplin leistet, ist insofern ein erfreuliches Faktum, doch ist es mitnichten ein schöner Luxus. Wie die Profillinien 'Kultur und Technik' sowie 'kulturelles Erbe und sozialer Wandel' ist dieses Faktum ein unschätzbarer Tribut an die Einsicht, dass Technik in Kultur lebe, Technik Kultur sei, Technik selbst kulturelle Praktiken erzeuge, wie ungekehrt eine Kultur ohne Techniken (im weiteren Wortsinn) und Technik (im engeren) noch nie auskam, von den großen Stadtkulturen des Zweistromlands mit ihren Monumentalbauten und Kanälen über die mittelalterliche Kathedralgotik bis heute.

Unser Zeitalter, das in der Globalisierung so viele zuvor getrennte Kulturen wie nie zusammenbringt, scheint mir dabei in besonderem Maß darauf angewiesen zu sein, die eigene nicht allein auf Grund ihrer literarischen und historischen Überlieferung genau zu kennen, sondern auch als historisch gewordene zu begreifen. Wir müssen uns und anderen Rechenschaft darüber ablegen, wie unsere Normen und Praktiken entstanden, zumal wir so gern dazu neigen, sie für universalgültig zu erklären: Ideen wie die Menschenrechte, die im Kern bereits im Investiturstreit des 11. Jahrhunderts angelegte (westkirchliche) Scheidung des Religiösen vom Politischen, die Freiheit des Marktes und Kapitals mit ihren Anfängen im oberitalienischen Bankenwesen des 13. Jahrhunderts, sind eben keine anthropologischen Konstanten, sondern Resultate einmaliger historischer Prozesse, die erst unsere Sicht zu (mitunter) wünschenswert universalen Errungenschaften erhebt. Die fast durchweg in Texten überlieferten, mithin literarisch kodierten historisch-kulturellen Bedingtheiten und Komplexitäten dieser Prozesse disziplinär wie transdisziplinär zu erforschen, ist m.E. kein Beiwerk, sondern muss zum 'Kernportfolio' gehören und Leitziel sein einer Institution, die ihren Platz in einer technisierten und globalisierten Welt stets aufs neue definiert. Die Relevanz, die (gerade auch) der literatur- und kulturwissenschaftlichen Lehramtsausbildung an einer solchen Institution zukommt, hängt damit unmittelbar zusammen; sie sei als entschiedenes Ceterum censeo ans Ende dieser Anmerkungen gesetzt. Herzlichen Dank.


[Mathias Herweg]

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